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„Ein Ort, an dem Menschen gern leben, ist auch ein Ort, den Gäste gern besuchen.“

03.11.2025

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9 min

Wie gelingt Tourismus, der die Interessen der Gäste und Einheimischen gleichermaßen berücksichtigt? Diese Frage begleitet viele Touristikerinnen und Touristiker im Land. Denn Akzeptanz entsteht nicht von selbst. Sie ist das Ergebnis von Kommunikation, Beteiligung und vor allem von Bewusstsein.

Im Interview: Dr. Sabrina Seeler und Leonie Scherer

Deutsches Institut für Tourismusforschung und dwif-Tourismusberatung

Dr. Sabrina Seeler (links im Bild) und Leonie Scherer (rechts im Bild) © FH Westküste & Katina Raschke

Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern (TMV):

Frau Scherer, Sie beobachten die touristische Entwicklung europaweit seit mehreren Jahren. Der Begriff „Tourismusakzeptanz“ ist zuletzt deutlich präsenter geworden. Warum gewinnt das Thema gerade jetzt an Bedeutung?

Leonie Scherer:

Das Thema Tourismusakzeptanz ist gerade durch die steigende Auseinandersetzung mit dem „Overtourismus“-Begriff in den letzten Jahren verstärkt aufgekommen. Übersteigen die Zahlen der Übernachtungs- und Tagesgäste in einer Destination das vorhandene Angebot sowie die räumlichen Kapazitäten, kann für Gäste und Einheimische der subjektive Eindruck entstehen, dass es „zu viel“ wird. Darüber hinaus können solche Entwicklungen dazu führen, dass für die Einheimischen vor Ort weitere Einschränkungen entstehen, beispielsweise das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum durch die Weitervermietung des Wohnungsbestandes an Gäste. Die stärksten Ausprägungen in dieser Form sehen wir derzeit insbesondere in Südeuropa. Orte wie Venedig, Palma de Mallorca, Barcelona liefern fast täglich neue Schlagzeilen. Einheimische sprechen sich gegen ein weiteres Wachstum des Tourismus aus, gehen demonstrieren und greifen teilweise auch zu rigoroseren Maßnahmen, womit das Urlaubserlebnis der Gäste vor Ort beeinträchtigt wird.

TMV:

Sie sprachen es an: In einigen Destinationen, vor allem in Südeuropa, sehen wir derzeit Demonstrationen gegen den Tourismus. Wie schätzen Sie die Lage in Mecklenburg-Vorpommern ein: Drohen solche Szenarien auch hierzulande?

Leonie Scherer:

In Deutschland wird die Tourismusakzeptanz durch das Deutsche Institut für Tourismusforschung der FH Westküste in Kooperation mit dem Deutschen Tourismusverband bereits seit einigen Jahren gemessen. Bislang haben wir kein grundlegendes Tourismusakzeptanzproblem, wenngleich es durchaus Hotspots mit großen Herausforderungen gibt. Insbesondere im Küstenbereich in Mecklenburg-Vorpommern sehen wir bereits eine sinkende Akzeptanz, die Gefahr läuft, die Beziehung zwischen Einheimischen und Gästen immer stärker zu belasten. Zwar haben wir noch nicht die Ausmaße erreicht, die wir derzeit in Südeuropa sehen, dennoch sollten die aktuellen Schlagzeilen ein Warnsignal sein. Wir sollten aus den Erfahrungen anderer Destinationen lernen, damit sich diese Entwicklung nicht in Deutschland verfestigt. Unser Ziel sollte es sein, gegenzusteuern und frühzeitig Methoden und Maßnahmen zu entwickeln, die uns dabei helfen, die Destinationen sozial nachhaltig zu entwickeln, damit Gäste und Einheimische gleichermaßen profitieren können.

TMV:

Frau Dr. Seeler, Sie begleiten seit 2021 die Einwohnerbefragungen zum Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern. Wie blicken die Einwohnerinnen und Einwohner aktuell auf den Tourismus im Land?

Dr. Sabrina Seeler:

Die Einwohnerinnen und Einwohner Mecklenburg-Vorpommerns stufen die Auswirkungen des Tourismus auf ihren Wohnort und auf sich persönlich grundsätzlich positiv ein, wenngleich regionale Unterschiede feststellbar sind. Sie verstehen die Branche als wichtigen Arbeitgeber und erkennen, dass der Tourismus Investitionen und Verbesserungen im Freizeit-, Kultur- und Infrastrukturangebot vorantreibt. Tourismus gehört in gewisser Weise zur DNA der Einwohnerinnen und Einwohner: Durch den Besuch von Gästen werden sie verstärkt an die Besonderheiten ihres Wohnortes erinnert. „Leben, wo andere Urlaub machen“, macht halt stolz! Trotz dieser insgesamt positiven Stimmung dürfen wahrgenommene Belastungsgrenzen und das Gefühl, „durch den Tourismus überrannt worden zu sein“, nicht aus dem Blick gelassen werden. Insbesondere in den Sommermonaten nehmen Einwohnerinnen und Einwohner Überlastungserscheinungen wahr. Sie stören sich dabei insbesondere am erhöhten Verkehrsaufkommen, an Lärmbelästigung und an der Zunahme von Müll und Verschmutzung. Zudem beklagen sie erhöhte Preise, die die eigene Nutzung der Infrastruktur im Alltag einschränkt – beispielsweise in Restaurants, in Schwimm- und Freizeitbädern. Auch Parkgebühren stoßen immer wieder negativ auf. In MV und bundesweit zeigt sich, dass der Tourismus zwar als wichtiger Wirtschaftsfaktor für den Wohnort erkannt und geschätzt wird, der persönliche Nutzen und die Vorteile jedoch weniger gesehen werden. In Orten mit einer hohen bis sehr hohen Tourismusintensität spitzt sich dieses Phänomen weiter zu.

TMV:

Inwiefern beeinflusst die Tourismusintensität die Tourismusakzeptanz?

Dr. Sabrina Seeler:

In medialen und wissenschaftlichen Diskursen hierzu wird nahezu immer auch die Tourismusintensität in den betrachteten Urlaubsdestinationen thematisiert. Oft werden das touristische Volumen und die Tourismusintensität für die aufkommende Unzufriedenheit der lokalen Bevölkerung und eine sinkende Tourismusakzeptanz verantwortlich gemacht. Unsere Erkenntnisse aus inzwischen sechs Jahren Akzeptanzforschung zeigen jedoch, dass dies zu einseitig ist und es einer deutlich differenzierteren Betrachtung bedarf. So kann die Akzeptanz für den Tourismus auch in Orten und Regionen mit einer sehr geringen Tourismusintensität niedrig ausfallen. Auch in Orten mit geringer Übernachtungsintensität aber hoher Tagestourismusintensität kann es zu Akzeptanzproblemen kommen. Die Tourismusakzeptanz ist stark regional geprägt und hängt von der Tourismushistorie, den Erfahrungen, den Raumstrukturen, aber auch der Dichte der touristischen Nutzung ab. Dennoch kann nicht negiert werden, dass in stark touristisch geprägten Regionen die Auswirkungen des Tourismus deutlicher wahrgenommen werden – dies bezieht sich in der Regel sowohl auf positive als auch negative Auswirkungen. In Mecklenburg-Vorpommern stimmten insgesamt nur 18 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner zu, dass es in ihrem Wohnort zu viele Gäste gäbe; in tourismusintensiven (Küsten-)Orten waren es bis zu 60 Prozent. Die Daten verdeutlichen, dass die Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern in tourismusintensiven Orten ausgeprägter ist. Dies hängt oftmals mit einem unzureichenden Verständnis und Tourismusbewusstsein zusammen.

TMV:

Sie sprachen sowohl von Tourismusbewusstsein als auch von Tourismusakzeptanz. Worin unterscheiden sich das Bewusstsein und die Akzeptanz?

Dr. Sabrina Seeler:

Die Begriffe „Tourismusakzeptanz” und „Tourismusbewusstsein” werden oftmals synonym verwendet, was jedoch nicht korrekt ist. Akzeptanz basiert auf Erfahrungswerten und kann stark emotional aufgeladen sein – sowohl positiv als auch negativ. Tourismusbewusstsein ist rational und faktenbasiert und grenzt sich somit klar von der emotional geladenen, wertenden und subjektiven Tourismusakzeptanz ab. Ohne Tourismusbewusstsein ist die Gefahr, Kipppunkte zu erreichen, deutlich höher. Nur wenn Einwohnerinnen und Einwohner die Zusammenhänge und Wirkungsketten des komplexen Systems Tourismus wirklich verstehen und sich dessen Bedeutung für Bevölkerung, Wirtschaft und Natur bewusst sind, können sie diesen auch bewerten und einordnen, ohne in der Meinungsbildung zu stark von Emotionen gesteuert zu sein.

TMV:

Und wie entsteht Tourismusbewusstsein in einer Region?

Dr. Sabrina Seeler:

Die Schaffung von Tourismusbewusstsein hängt stark von den bereits verankerten Glaubenssätzen, Haltungen und Meinungsbildern der Einwohnerinnen und Einwohner ab. Hat sich bereits ein (negatives) Bild vom Tourismus fest verankert, ist es deutlich schwieriger, dieses zu verändern. Hier sind viel Ausdauer, Geduld und gegenseitiges Verständnis gefragt. Transparente und glaubwürdige Kommunikation ist ein entscheidender Schlüssel. Das Bewusstsein sollte bereits in jungen Jahren geschaffen werden. Tourismus spielt in Schulen und Medien noch kaum eine Rolle – hier besteht Nachholbedarf. Teilweise fehlt hier das ganzheitliche Verständnis des Systems Tourismus, und es wird einseitig in saisonaler Abhängigkeit berichtet. Auch Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache schaffen Transparenz und Verständnis: Wer mitreden darf, versteht Hintergründe besser, fühlt sich verstanden und gehört. Wichtig ist hierbei jedoch auch, dass Partizipation in Aktion mündet, da ansonsten das Gefühl wachsen kann, dass die eigene Stimme ungehört und ignoriert bleibt, was zu noch mehr Frustration führt.

TMV:

Was passiert, wenn dieses Bewusstsein nicht rechtzeitig geschaffen wird oder gänzlich fehlt?

Dr. Sabrina Seeler:

Destinationen durchlaufen einen Lebenszyklus. Es ist wichtig, möglichst in den frühen Phasen der Entwicklung ein Bewusstsein für den Tourismus zu schaffen. Hier ist die Euphorie, die Zustimmung für den Tourismus sowie das Interesse, mehr über den Tourismus zu erfahren, um zu partizipieren, sehr hoch. Mit zunehmender touristischer Entwicklung – die oftmals dynamischer ist als die Ortsentwicklung – werden Nutzungskonflikte zwischen den Anspruchsgruppen wahrgenommen, und Meinungsbilder verfestigen sich. Wenn es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend gelungen ist, grundlegendes Wissen über den Tourismus zu vermitteln, besteht die Gefahr, dass der Tourismus als Problem und nicht als Teil der Lösung wahrgenommen wird. Es ist deutlich aufwendiger, verfestigte Meinungsbilder zu verändern, als frühzeitige Aufklärung und Informationen zu betreiben. Oftmals reagieren wir erst, wenn ein Problem bereits aufgetreten ist, und handeln sehr reaktiv. Dies zeigt sich auch beim Thema Tourismusakzeptanz. Warum also nicht proaktiv agieren und ein Bewusstsein schaffen, bevor es zu Akzeptanzverlusten kommt?

TMV:

So viel zur Theorie. Frau Scherer, was zeichnet aus Ihrer Sicht wirksame Ansätze in der Praxis aus?

Leonie Scherer:

Es gibt keine Universallösung. Maßnahmen zur Verbesserung der Tourismusakzeptanz müssen wir individuell prüfen und auf die Destinationen maßschneidern. Dabei gilt es, die rahmenpolitischen Gegebenheiten, räumlichen Voraussetzungen und die Mentalität der Bevölkerung zu berücksichtigen. Wir unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Formen von Maßnahmen: Auf der einen Seite die Sensibilisierung, um das Bewusstsein, welche Vorteile der Tourismus jedem Einzelnen vor Ort bringt, zu fördern. Auf der anderen Seite Regulierung, um negative Effekte des Tourismus gezielt einzudämmen, beispielsweise indem sie einen angespannten Wohnungsmarkt entlasten. Destinationen, die bereits den Kipppunkt erreicht haben, indem sich die Tourismusakzeptanz ins Negative verkehrt hat, werden mit einer Sensibilisierung kaum noch Erfolge erzielen können, da die Einheimischen spürbare Entlastung wahrnehmen müssen. Es gibt keine Erfolgsgarantien und nicht immer geradlinige Wege. Wirksame Ansätze brauchen Mut, Geduld, Evaluation und setzen das Mitwirken vieler verschiedener Akteure voraus.

TMV:

Können Sie ein paar Beispiele nennen, die Bewusstsein oder Akzeptanz fördern?

Leonie Scherer:

Ein schönes Beispiel ist unser Projekt in Berchtesgaden. Hier haben wir 2023 die Tourismusakzeptanz gemessen und Herausforderungen und Wünsche der Einheimischen aufgedeckt. Ein großer Wunsch war, dass nicht nur Gäste vergünstigte Angebote über die Gästekarte bekommen – zum Beispiel bei der Bergbahn –, sondern auch Einheimische Vorteile genießen dürfen. Daraus ist die Idee einer „Hoamat-Karte“ entstanden, die Einheimische für einen kleinen Betrag erwerben können, um vergünstigten Eintritt für Freizeitangebote zu erhalten. In München messen wir bereits seit vielen Jahren die Tourismusakzeptanz mit besonderem Fokus auf altersspezifischen Unterschieden. Insbesondere junge Menschen stehen dem Tourismus oft kritischer gegenüber. 2024 gab es ein außergewöhnlich breites Veranstaltungsangebot – die Fußball-Europameisterschaft 2024 und Sommerkonzerte mit großen Stars. Einige der Angebote konnten sogar kostenlos von Einheimischen und Gästen genutzt werden, wie z. B. den Konzerten auf dem Olympiaberg zu lauschen. Im Spätsommer ist die Tourismusakzeptanz in der Stadt München bei unter 30-Jährigen auffällig gestiegen, was durch die vielen Veranstaltungen begünstigt worden sein könnte. Diese haben den Austausch zwischen Einheimischen und Gästen gefördert und die Lebensqualität vor Ort erhöht.

TMV:

Was sollten Kommunen, Destinationen, Touristikerinnen und Touristiker beachten, wenn sie Maßnahmen planen?

Leonie Scherer:

Zunächst geht es darum, sich genau zu überlegen, welche Effekte potenzielle Maßnahmen erzielen sollen und wen ich damit erreichen möchte. Geht es mir darum, Gegner des Tourismus von dessen Vorteilen zu überzeugen oder positiv gestimmte Einheimische zu Botschaftern zu machen? Möchte ich die Akzeptanz junger Menschen erhöhen und wie bekomme ich sie dazu, sich aktiv zu beteiligen? Hier gilt es die richtigen Kommunikationsmittel, Formate und Kanäle auszuwählen. Es braucht hybride und alternative Formen der Beteiligung, beispielsweise über digitale Formate, Ideenwettbewerbe, Kurzumfragen. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass die ausgewählten Maßnahmen Begleiterscheinungen mit sich bringen können. Beispielsweise kann eine Verlängerung der Saison dazu führen, dass den Einheimischen weniger Ruhezeiten bleiben. Es gilt also, Vor- und Nachteile genau abzuwägen. Um diese zu erkennen, hilft es, Einheimische in den Entwicklungsprozess direkt einzubeziehen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Wünsche, Sorgen und Ideen direkt zu äußern und aktiv mitzugestalten.

TMV:

Wenn Sie von außen auf die Diskussion in Mecklenburg-Vorpommern blicken – was können Sie uns noch mitgeben?

Leonie Scherer:

Was es heutzutage braucht, ist ein gemeinsames Miteinander. Nur gemeinsam können wir den Tourismus zukunftsfähig aufstellen. Der Tourismus kann ein großer Gewinn für Destinationen sein und die Lebensqualität positiv fördern. Hierfür müssen wir aber die Einheimischen ernst nehmen und deren Meinungen mitberücksichtigen. Wir müssen uns gemeinsam an einen Tisch setzen: Politik, Verwaltung und Tourismusakteure und Einheimische und nach zukunftsfähigen Lösungen suchen. Denn: Ein Ort, an dem Menschen gern leben, ist auch ein Ort, den Gäste gern besuchen. Das sollte Anspruch und Antrieb zugleich sein.

TMV:

Vielen Dank für das Interview!

TMV:

Für alle, die das Thema in ihrer Kommune oder Destination weiter vertiefen möchten, bietet die Tourismusakzeptanz-Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern praxisnahes Wissen, Werkzeuge und Impulse und unterstützt Touristikerinnen und Touristiker dabei, Akzeptanz und Bewusstsein gezielt zu fördern. Die Bibliothek ist online unter strategie.tourismus.mv/tourismusakzeptanz abrufbar.